EU erwägt Israel-Sanktionen wegen Rafah-Offensive

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Das Briefing dazu, wie sich Entscheidungen in Brüssel auf Sie auswirken. Mit dem Wissen des größten Newsrooms der europäischen Hauptstadt.

POLITICO Pro Brussels Decoded Das Europa Briefing
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von JÜRGEN KLÖCKNER

mit LAURA HÜLSEMANN und JULIUS BRINKMANN

DIE TOP-THEMEN

Brüssels Ultimatum an Israel: Wegen der voranschreitenden Offensive in Rafah erwägt die EU wirtschaftliche Sanktionen. Deutschland zögert. 

— Von der Leyen weiter in der Kritik: Die Annäherung der Kommissionspräsidentin an rechte Parteien sorgt in der Ampel-Koalition für Empörung.

— Handelskrieg mit Peking: Die EU will bald über Strafzölle auf E-Autohersteller aus China entscheiden. Analysen für POLITICO zeigen, welche Folgen Deutschland bevorstehen. 

 Schutz kritischer Technologien: Die EU will verhindern, dass sicherheitsrelevante High-Tech in die falschen Hände gerät. POLITICO kennt die Details.

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WORÜBER BRÜSSEL SPRICHT

BRÜSSEL ERWÄGT ISRAEL-SANKTIONEN: Während Israel offenbar seine Offensive in Rafah fortsetzt, nimmt die EU mögliche Sanktionen gegen das Land ins Visier. Das berichtet mein Kollege Jakob Hanke Vela mit Bezug auf mehrere Diplomaten und Beamte nach dem Treffen der EU-Außenminister am Montag. 

Der Hintergrund: Das Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Freitag verpflichtete Israel dazu, unverzüglich seine Offensive in Rafah in der jetzigen Form einzustellen. Lebensbedingungen, die zur „vollständigen oder teilweisen Vernichtung“ der palästinensischen Bevölkerung führen würden, dürften nicht geschaffen werden.

Die EU überlegt nun offenbar, Israel ein Ultimatum zu stellen: Entweder halte sich das Land an das Urteil — oder es müsse mit „Konsequenzen“ für die wirtschaftlichen Beziehungen mit der Union rechnen, hieß es. 

Das Eingemachte: „Zum ersten Mal habe ich bei einem EU-Treffen wirklich eine signifikante Diskussion über Sanktionen gesehen“, sagte der irische Außenminister Micheál Martin nach dem Treffen. 

Einige sind für das Ultimatum — doch mehrere EU-Länder, darunter Deutschland und Österreich, werden Sanktionen wahrscheinlich nicht befürworten und könnten sie blockieren.

Berlin hält sich noch zurück. Außenministerin Baerbock sagte am Montag lediglich, dass das IGH-Urteil bindend ist. Auch der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, wollte mögliche Sanktionen gegen Israel nicht kommentieren. Aber es brauche „Druck der internationalen Gemeinschaft auf Netanjahu“, sagte er uns. Es brauche „ein Angebot, das Israel nicht ablehnen kann“.

Nein von der FDP: „Mögliche Ultimaten oder Sanktionen gegenüber Israel lehne ich klar ab“, sagte uns der Generalsekretär Bijan Djir-Sarai. Israel verteidige sich „nach wie vor selbst“. Das sei „das Recht und die Pflicht des israelischen Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern“.

Laut dem außenpolitischen Sprecher der Fraktion, Ulrich Lechte, würden wirtschaftliche Sanktionen Israel „einseitig und unverhältnismäßig anklagen“. Für das Leid der Palästinenser sei vor allem die Hamas verantwortlich. 

Der Kompromiss? Einige Außenminister sprachen sich am Montag für eine vagere Androhung von „Konsequenzen“ aus, falls Israel dem Urteil des IGH nicht innerhalb eines gewissen Zeitrahmens nachkommt. 

Alternativen prüfen: Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) bereitet derzeit eine Liste von Möglichkeiten für den Fall vor, dass Israel die Entscheidung des Gerichts weiterhin ignoriert. Eine naheliegende Option wäre nach Ansicht von Beamten und Diplomaten die Aussetzung des Assoziierungsabkommens zwischen Israel und der EU, das Israel einen bevorzugten Marktzugang zur EU gewährt.

Spaniens Vorstoß: Der spanische Außenminister José Manuel Albares sagte, er werde sich um die Unterstützung der anderen 26 Mitgliedsstaaten für das IGH-Urteil bemühen. Zudem hat die Regierung in Madrid am Dienstag offiziell die Anerkennung eines Palästinenserstaates verkündet.

Wie geht es weiter? Während der EAD die Liste der möglichen Maßnahmen vorbereitet, wird die EU im Rahmen des Assoziierungsabkommens mit Israel eine Sitzung des „Assoziationsrates“ einberufen. Im Auswärtigen Amt sieht man darin „einen geeigneten Rahmen“ für Gespräche mit Israel, wie wir aus Kreisen hören. Heute um 21:30 Uhr soll außerdem der UN-Weltsicherheitsrat zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen.

MACRONS DEUTSCHLANDREISE, LETZTER AKT: Heute Mittag reisen der französische Präsident Emmanuel Macron und Kanzler Olaf Scholz zur deutsch-französischen Kabinettssitzung nach Meseberg. Auf der Agenda stehen Kooperationen zu Wettbewerbsfähigkeit, Verteidigung und Sicherheit. Gleichzeitig wächst in Europa die Skepsis gegenüber dem Bündnis, berichtet unser Kollege Nicholas Vinocur.

Konflikte noch und nöcher: Die Franzosen werfen den Deutschen vor, engstirnig zu sein — und sie fordern massive EU-Investitionen. Die Deutschen wollen hingegen sparen. Und in der Energiepolitik sind Paris und Berlin sowieso hoffnungslos zerstritten. 

Macrons Schwäche: „Bei dieser Wahl wird Macron eine herbe Klatsche einstecken müssen“, sagte uns ein hochrangiger konservativer politischer Mitarbeiter in Brüssel.  „Die anderen Staats- und Regierungschefs wissen das und spüren die Schwäche.“ Glaube Macron etwa, „dass er nach dieser Wahl dem Rest Europas Vorschriften machen kann?“

Während Paris und Berlin an Einfluss verlieren, sehen andere eine Chance, ihren Machtbereich zu vergrößern. Inmitten des Krieges in der Ukraine haben sich Personen wie Polens Premierminister Donald Tusk, Estlands Kaja Kallas und Italiens Giorgia Meloni als wichtige Akteure auf der EU-Bühne etabliert. 

Aber selbst eingefleischte Gegner geben zu, dass die deutsch-französische Uneinigkeit einen gewissen Preis hat. „Wir mögen es nicht, wenn das deutsch-französische Paar zu stark ist, aber wir mögen es auch nicht, wenn es zu schwach ist, weil dann nichts erreicht wird“, sagte ein EU-Diplomat aus einem mittelgroßen Land.

EU-WAHL

VON DER LEYEN WEITER IN DER KRITIK: Die Annäherung der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an rechte Parteien sorgt in der Ampel-Koalition weiter für Unruhe.

Von der Leyen agiere „aus kalter Machttaktik“, um „im Zweifel auch mit extrem rechten Kräften in Europa gemeinsame Sache zu machen“, sagte uns der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Achim Post. Von der Leyens Verhalten sei „ein eklatanter Bruch mit der eigenen Tradition als Europapartei“. 

Viel Sympathie gibt es in den Koalitionsparteien hingegen zu den Gedankenspielen, dass der frühere EZB-Chef Mario Draghi von der Leyen an der Spitze der Kommission ablösen könnte. 

Die FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sagte uns: „Draghi ist sicherlich ein politisches Schwergewicht, zumal von der Leyen in vielen Ländern sehr kritisch gesehen wird“. 

Zuletzt gehe es bei der Wahl jedoch um Mehrheiten — aber die haben „definitiv nicht zwingend Ursula von der Leyen oder Mario Draghi“, sagte Strack-Zimmermann.

Zuletzt gehe es bei der Wahl jedoch um Mehrheiten — aber die haben „definitiv nicht zwingend Ursula von der Leyen oder Mario Draghi“, sagte Strack-Zimmermann. 

TECH

WENIGER RISIKO: Die Europäische Kommission will offenbar stärker verhindern, dass kritische Technologien in die falschen Hände geraten könnten. Das geht aus einem internen Vermerk der Kommission hervor, über die unsere Kollegen Camille Gijs und Barbara Moens berichten.

Laut eines Dokuments, das von der belgischen EU-Ratspräsidentschaft erstellt wurde und auf den 21. Mai datiert ist, will die EU „die gemeinsamen Risikobewertungen zu kritischen Technologien vertiefen“.

Worum es geht: Im Rahmen der neuen Wirtschafts-Sicherheits-Strategie überlegt die EU, ihre sensibelsten Technologien — fortschrittliche Halbleiter, KI, Quantentechnologie und Biotechnologie — vor Rivalen wie China zu schützen. Die Auslandsinvestitionen dieser Technologien sowie künftige Ausfuhrkontrollen könnten prioritär geprüft werden. 

Die Kommission will nun „gemeinsam mit den EU-Mitgliedstaaten eingehende Überprüfungen der festgestellten Risiken durchführen“, heißt es in dem Dokument. Dies würde dabei helfen, zu erörtern, welche Daten die EU-Hauptstädte von ihren Stakeholdern erheben sollten — zum Beispiel welche Transaktionen wie lange überprüft werden sollten. Der Zeitplan der Strategie bleibt ungenau. Sie wird jedoch diesen Sommer erwartet.

AUßERDEM ERFAHREN LESERINNEN UND LESER des Tech-Newsletters, was Christel Schaldemose — eine der führenden Tech-Politikerinnen in Brüssel — in der nächsten Legislatur vorhat. Sie drängt auf mehr Maßnahmen in der Digitalpolitik, insbesondere für soziale Medien.

HANDEL

ZOLLSTREIT UND KEIN ENDE: Angesichts der schwindelerregenden Zahl von Einzelverfahren der EU gegen China sieht es so aus, als sei längst ein Handelskrieg im Gange. Unsere Kollegen von Morning Trade haben analysiert, ob dies wirklich der Fall ist.

Das Thema drängt: Eine Entscheidung gegen chinesische E-Autohersteller durch die EU wird bald erwartet. Die Bundesregierung richtet sich bereits darauf ein, dass sie positiv ausfällt. Damit abfinden will sie sich aber nicht.

Das Bundeswirtschaftsministerium verwies am Dienstag auf das Prüfverfahren auf europäischer Ebene, das endgültigen Zöllen gegen chinesische Produkte vorangeht. Sollte sich eine qualifizierte Mehrheit — also mindestens 15 Mitgliedstaaten — gegen diese Zölle aussprechen, „können sie nicht in Kraft treten“, teilte das Ministerium mit.

So oder so: Die Sorge ist groß, dass China wiederum mit Strafen auf die hiesige Autoindustrie reagiert und die deutsche Wirtschaft so stark trifft. Peking hat bereits angekündigt, eine Erhöhung der Zölle auf Verbrenner überprüfen zu wollen. 

Überzogene Sorgen: ​​„Ein größerer wirtschaftlicher Schaden ist nicht zu erwarten“, sagte uns Jürgen Matthes vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Der Anteil der Autoexporte am Bruttoinlandsprodukt sei rückläufig und betrage nur noch etwa 0,3 Prozent. Zudem dürften die von Peking angedrohten Zölle auf Verbrenner die Exporte „nur in geringem Maße“ reduzieren.

Die Bedeutung Chinas für die Gesamtwirtschaft werde „chronisch überschätzt“, sagte er. Die Wahrnehmung sei geprägt von den zweistelligen Umsatzanteilen, die deutsche Autobauer in Fernost erwirtschaften. „Für die Gesamtwirtschaft hat China eine deutlich geringere Relevanz“, sagte er. Letztlich würden nur etwa drei Prozent der Arbeitsplätze direkt oder indirekt von den Exporten nach China abhängen. 

Positiver Effekt? Laut Berechnungen des Wirtschaftsforschungsinstituts IfW Kiel, die unserer Kollegin Julia Wacket vorliegen, könnte ein EU-Zollsatz von 20 Prozent auf Elektroautos aus China auch zu einem starken Anstieg der Autoverkäufe in der EU führen — nämlich zu einem Plus von 3,3 Milliarden US-Dollar. 

Ein Großteil des starken Rückgangs der Importe aus China würde durch innereuropäische Produktion aufgefangen werden, allerdings bei höheren Preisen für Konsumenten. 

Regelbasierte Nebelkerzen: Aktuell laufen 13 Untersuchungen der EU-Handelsbehörde zu Produkten aus China wie Vanillin, Weißblech und Stahlrohren.

Streit oder Handelskrieg? Beide Seiten werden zwangsläufig behaupten, sich lediglich vor den unfairen Methoden des anderen zu schützen.

Die EU-Position: Brüssel hält das chinesische Wirtschaftsmodell für unhaltbar und unfair, weil es zu einem Überangebot subventionierter Produkte auf dem Weltmarkt führt. Mit ihren 450 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern und ihrer offenen Handelspolitik ist die EU natürlich ein gern gesehener Abnehmer.

Peking hingegen kritisiert die Untersuchung gegen E-Auto-Hersteller als politisch motiviert, auch weil Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sie in ihrer größten Rede des Jahres angekündigt hatte, anstatt sie auf die unübersichtliche Webseite der Kommission zu verfrachten.

China will sich deswegen unter anderem bei der französischen Cognac-Industrie rächen. Der Handelsanwalt Laurent Ruessmann, der europäische Solarhersteller vertritt, vermutet dahinter nur Taktik. „Die chinesische Regierung ist sehr gut darin, jemanden zu mobilisieren, der die Lobbyarbeit für sie übernimmt“, sagt er.

Ruessmann erinnert sich an den letzten Handelskrieg: „Damals war es die deutsche Autoindustrie, und jetzt ist es das Gleiche mit dem Cognac. China will nur, dass sie zu Macron marschieren und sagen: Wir müssen einknicken!“

Fazit: Es ist noch zu früh, zu sagen, ob wir uns im Handelskrieg befinden. Die kommenden Wochen werden für die gegenseitigen Beziehungen entscheidend sein. 

AUßERDEM ERFAHREN LESERINNEN UND LESER des Trade-Newsletters, warum Australien und die EU heute schon ihr Rohstoffabkommen unterzeichnen — und nicht wie geplant erst am Mittwoch.

WORÜBER BRÜSSEL SONST NOCH SPRICHT

KRITIK AN ORBÁN: Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis rügte am Montag in einem Interview mit Jacopo Barigazzi Ungarn für seine systematische Blockade von außenpolitischen Entscheidungen der EU. „Die ukrainischen Beitrittsgespräche [werden] von Ungarn als Geisel gehalten und ich könnte noch mehr sagen“, kritisierte Landsbergis. 

SPANIEN UNTERZEICHNET SICHERHEITSABKOMMEN MIT DER UKRAINE: Am Montag stattete der ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in der spanischen Hauptstadt den ersten offiziellen Besuch ab. Zeitgleich verkündete Madrid Militärhilfen im Wert von 1,2 Milliarden Euro für das Land. Das Paket umfasst Patriot-Raketen, Leopard-Kampfpanzer, Granaten und in Spanien hergestellte Anti-Drohnen-Systeme sowie Überwachungs- und Aufklärungsausrüstung, berichtete El País. Mehr Infos gibt es hier

— F16 an die Ukraine: Belgien will dieses Jahr die ersten F-16-Kampfjets an die Ukraine liefern, versprach das EU-Land. Aber die militärische Unterstützung geht einher mit einer deutlichen Warnung an den ukrainischen Präsidenten Selenskyj — sie nicht über russischem Gebiet zu nutzen. Mehr lesen Sie hier von Šejla Ahmatović und Stuart Lau.

Das war Brussels Decoded — das Europa Briefing von POLITICO. Vielen Dank, dass Sie uns lesen und abonnieren. Bis zur nächsten Ausgabe!.

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