Macron auf Konfrontationskurs

5 months ago 14
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Das Briefing dazu, wie sich Entscheidungen in Brüssel auf Sie auswirken. Mit dem Wissen des größten Newsrooms der europäischen Hauptstadt.

POLITICO Pro Brussels Decoded Das Europa Briefing
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von JÜRGEN KLÖCKNER

Mit LAURA HÜLSEMANN und JULIUS BRINKMANN

DIE TOP-THEMEN

Agent Provocateur: Frankreichs Präsident kommt mit zwei — aus hiesiger Sicht — ungemütlichen Themen nach Deutschland. Es geht unter anderem um die Zukunft von Kommissionschefin von der Leyen. 

— Trügerische Idylle: Am Lago Maggiore wollen die G7-Finanzminister heute endlich Fortschritte in der Frage erzielen, wie Russlands eingefrorene Vermögen verwendet werden können. 

Brandmauer im EU-Parlament: Zur Wahldebatte waren die extrem Rechten der ID-Fraktionen nicht dabei. Sie dominierten dennoch die Agenda.

Europäische Luftverteidigung: Polen und Griechenland fordern einen Schutzwall gegen Raketen und Drohnen — und erhalten Unterstützung von der Kommissionschefin. 

Willkommen bei Brussels Decoded, dem werktäglichen Europa-Briefing von POLITICO zur Mittagszeit. Mein Name ist Jürgen Klöckner — und ich informiere Sie hier zusammen mit meinen Kollegen Laura Hülsemann und Julius Brinkmann über die aktuellen Entwicklungen in den Machtzentralen Europas. 

Senden Sie Tipps und Feedback an jkloeckner@politico.eu, lhulsemann@politico.eu und jbrinkmann@politico.eu Oder folgen Sie uns auf X: @herrkloeckner, @hulsemannLaura und @juliusbri_

WORÜBER BRÜSSEL SPRICHT

AGENT PROVOCATEUR: Kurz vor seinem Deutschland-Besuch hat Präsident Emmanuel Macron gleich zwei — zumindest aus hiesiger Sicht — ungemütliche Themen gesetzt.

Provokation Nummer eins: Macron ist auf der Suche nach einem EU-Chefposten für seinen alten Freund und früheren italienischen Ministerpräsidenten sowie ehemaligen EZB-Chef Mario Draghi. Im Blick hat er einen Job mit viel Einfluss. Die Rede ist von einem Posten als Kommissions- oder Ratspräsident — oder als Kommissar eines großen Wirtschaftsressorts. 

Macron vs. von der Leyen: Eigentlich strebt die derzeitige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit nach der EU-Wahl an. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob sie auch die Unterstützung Frankreichs bekommt. 

Denn Paris hat (noch) kein Interesse bekundet, die CDU-Politikerin zu unterstützen. Stattdessen dürfte Frankreich in den Gesprächen über die Besetzung der wichtigsten Ressorts diplomatischen Druck ausüben. 

Macrons Liebling? „Frankreich und das gesamte Präsidialsystem möchten, dass Draghi eine Rolle spielt“, sagte Pascal Canfin, Europaabgeordneter von Macrons liberaler Renaissance-Partei, unserem Kollegen Nicolas Camut. Canfin hat einen direkten Draht zum französischen Präsidenten. 

Behind the scenes: Es wird seit längerer Zeit gemunkelt, dass Macron Draghi an die Spitze der EU-Exekutive setzen möchte. Es ist jedoch das erste Mal, dass ein französischer Politiker ihn öffentlich für einen Spitzenposten in Brüssel benannt hat. 

Ideologische Übereinstimmung: Draghi und Macron sind sich einig. Beide wollen großzügige Ausgaben für die Umgestaltung der europäischen Wirtschaft und sind gegen finanzpolitische Regeln, die solche Ausgaben einschränken. 

„Er hat die nötige Überzeugungskraft, um [andere Länder] von der Notwendigkeit gemeinsamer Investitionen zu überzeugen“, so Canfin.

Das andere Problem ist, dass Draghi offiziell keiner großen Partei angehört. Um ihn einen Posten zu verschaffen — vielleicht sogar den des Kommissionspräsidenten — müsste Macron mit den europäischen Spitzenpolitikern von von der Leyens Europäischer Volkspartei und Kanzler Olaf Scholz einen politischen Kompromiss finden. Außerdem müsste die italienische Regierung mitspielen.

In der SPD kommt der Vorschlag jedenfalls gut an. „Ich hätte kein Problem damit, Draghi auf dieser Position zu sehen – vielleicht wäre er sogar besser als Ursula von der Leyen“, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Markus Töns, meinem Kollegen Julius Brinkmann. Draghi sei auf europäischer Ebene erfahren und kenne die Herausforderungen. 

Die Union hingegen appellierte an Scholz, dass sich „die Bundesregierung geschlossen hinter“ von der Leyen stellt, sagte uns Gunther Kirchbaum (CDU), der Europapolitischer Sprecher der Fraktion ist. Er gehe davon aus, dass sie vom EU-Rat wieder vorgeschlagen werde. 

MACRONS PROVOKATION NUMMER ZWEI: Der Präsident will das Mandat der Europäischen Zentralbank erweitern, um die EU-Wirtschaft zu unterstützen, berichtet unser Kollege Carlo Boffa. 

Die Vorschläge formulierte Macron erstmals Ende April. „Ich bin ein starker Befürworter einer Erweiterung des Mandats der EZB nach dem Vorbild der US-Notenbank“, sagte Macron in einem Interview mit CNBC am Donnerstag — wohl auch, um seinen Besuch in Deutschland zu intonieren. 

Denn die Ampel-Regierung — und insbesondere das FDP-geführte Finanzministerium — hält von den Vorschlägen nichts. Dort sorgt man sich vor einem Aufweichen des EZB-Mandats und die Preisstabilität in der EU. 

Die EZB in Frankfurt soll nach dem Willen Macrons Arbeitsplätze schaffen, Wachstum fördern und die Dekarbonisierung der Wirtschaft vorantreiben. „Dies ist eine sehr politische Frage, aber für das europäische Wachstum ist dies viel effizienter“, erklärte er. 

SHOWDOWN? Macron landet am Sonntag zum Staatsbesuch in Berlin und wird von Scholz empfangen. 

Wenn Deutschland und Frankreich sich einig sind, wird deren Vorhaben wahrscheinlich auch umgesetzt, schreiben unsere Kollegen in Brüssel. Doch bei verschiedenen zentralen Fragen stehen sich Berlin und Paris (mal wieder) entgegen. 

Macron und Scholz uneins: Es geht nicht nur darum, wer den Top-Posten in der EU bekommt — auch bei der Ukraine-Unterstützung, EU-Reformen und die Wettbewerbsfähigkeit Europas haben beide unterschiedliche Ansichten. 

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G7

FROZEN ASSETS IN BELLA ITALIA: Auf der Agenda des heute beginnenden G7-Finanzministertreffens in Stresa stehen die Wirtschaftsaussichten, Künstliche Intelligenz, Finanzregeln und Finanzhilfen für ärmere Länder.

Aber das ist Nebensache — de facto hofft man, dass man bei bilateralen Treffen und informellen Zusammenkünften eine Einigung darüber findet, was mit den eingefrorenen russischen Vermögen in Höhe von mehr als 200 Milliarden Euro (Frozen Assets) passiert.

Italiens Finanzminister Giancarlo Giorgetti sagte im Vorfeld, was alle denken: Das Thema stehe beim Treffen im Vordergrund. Alle anderen Punkte der Tagesordnung würden keinerlei Resultate erbringen.

Alles andere ist unwichtig: „Ich bin sicher, dass wir vor dem Treffen der G7-Staats- und Regierungschefs Mitte Juni Fortschritte in der Frage der Frozen Assets erzielen können“, sagte Giorgetti. 

Aber das Thema sei mit rechtlichen Schwierigkeiten behaftet und die Zentralbanker haben große Bedenken, warnte er. 

Nach monatelangen erbitterten Meinungsverschiedenheiten hatten sich die EU und die USA bei dem Thema angenähert. Angedacht ist, die Zinseinnahmen der Frozen Assets zu verwenden, um einen 50 Milliarden Dollar schweren Hilfsfonds für die Ukraine zu finanzieren. Doch die Hoffnung auf sofortige Einigung in Stresa bleibt gedämpft. 

Die Frozen Assets seien „eine sichere Finanzierungsquelle“, sagte US-Finanzministerin Janet Yellen am Donnerstag. „Es ist wichtig, dass Russland erkennt, dass wir uns nicht aus Mangel an Ressourcen davon abhalten lassen, die Ukraine zu unterstützen.“

Doch die größten EU-Länder — Deutschland, Frankreich und Italien — befürchten, dass dies zu finanzieller Volatilität in der Eurozone führen könnte und sie gerichtlich angreifbar machen würde. Außerdem hat Europa mehr Einfluss, da der Großteil der Assets bei der Brüsseler Wertpapierverwahrungsstelle Euroclear liegt.

Annäherungsversuche: Die beiden Seiten haben ihre anfängliche Zurückhaltung aufgegeben und versuchen nun, eine Einigung zu erzielen. Beispielsweise hat die EU diese Woche den Plan zugestimmt, 90 Prozent der Gewinne aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten in Europa — etwa drei Milliarden Euro — für den Kauf von Waffen für die Ukraine zu verwenden.

Es liegen aber viele offene Fragen auf dem Tisch von der Höhe des Kredits bis hin zu der Frage, wer den Kredit an die Ukraine auszahlen und dafür bürgen würde. 

AUßERDEM ERFAHREN LESERINNEN UND LESER des Financial-Services-Newsletters, was die Finanzchefin Mairead McGuinness über die Pläne der Kommission im Herbst weiß. Wir verraten nur so viel: Es geht um die Stärkung des EU-Verbriefungsmarktes. 

EU-WAHL

HITZIGE EU-DEBATTE: Gestern fand die wohl wichtigste Debatte der Spitzenkandidaten vor der EU-Wahl statt. Nicht vertreten war die rechtspopulistische ID-Fraktion — doch diese dominierten trotzdem die gestrigen Schlagzeilen. Grund dafür war der Rauswurf der AfD aus der Fraktion nach der Kontroverse rund um den Spitzenkandidaten Maximilian Krah. 

Von der Leyens Brandmauer? Da nur fünf Kandidaten auf der Bühne standen, gab es reichlich Redezeit für alle. Die Kandidaten nutzten sie vor allem, um von der Leyen und Sandro Gozi von den Liberalen zu fragen, ob sie nach der EU-Wahl mit rechtsextremen Gruppen im Parlament zusammenarbeiten wollen.

„Bitte schaffen Sie Klarheit“, forderte der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, Nicolas Schmit, schlagfertiger als in vorherigen Debatten. „Ich frage mich, was Pro-EU für Sie bedeutet“, fragte er von der Leyen — und verwies auf die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. „Ich kann nicht glauben, dass [Meloni] die gleiche Vorstellung von Europa hat wie Sie“, warnte er die Kommissionspräsidentin.

BRANDMÄUERCHEN: Von der Leyen erklärte, nach den EU-Wahlen mit Abgeordneten der rechtspopulistischen „Fratelli d‘Italia“-Partei von Giorgia Meloni zusammenzuarbeiten. Meloni „ist eindeutig pro-europäisch, gegen Putin, das hat sie ganz klar gesagt, und für Rechtsstaatlichkeit, wenn das so bleibt, dann bieten wir an, zusammenzuarbeiten”, erklärte sie. 

Auch der Liberale Gozi wurde kritisiert. Er wich der Frage nach dem Ausschluss aus der Fraktion der niederländischen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) aus, nachdem diese in den Niederlanden eine Koalition mit der rechtsextremen Freiheitspartei von Geert Wilders eingegangen war. 

„Unsere Fraktionsvorsitzende [Valérie Hayer] sagt, dass wir dies in der Fraktion diskutieren werden“, sagte Gozi und fügte hinzu, dass er es für einen „großen Fehler“ halte, dass die VVD mit Wilders in eine Regierung gehe.

Auch aus der FDP hören wir, dass dies „eine Angelegenheit der europäischen liberalen Partei“ sei und nach der Wahl besprochen werde. Eine Zusammenarbeit mit den Rechten im Parlament komme aber nicht infrage, heißt es aus Partei-Kreisen. 

ZAHLEN UND FAKTEN: In fünf EU-Ländern — Italien, Finnland, der Slowakei, Ungarn und der Tschechischen Republik — sind rechtsextreme Parteien an der Regierung. Unsere Kollegen haben die Daten im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament zum möglichen Rechtsruck. Mehr Infos gibt es hier

VERTEIDIGUNG

GEMEINSAME LUFTVERTEIDIGUNG: Bei der EU-Debatte unterstützte von der Leyen außerdem den Vorstoß Polens und Griechenlands, ein „europäisches Luftverteidigungsschild“ aufzubauen. 

Der Verteidigungsschirm soll europäische Staaten vor Angriffen mit Raketen, Drohnen oder Kampfjets schützen und mit EU-Geldern finanziert werden. 

Das geht aus einem Schreiben des griechischen Premierministers Kyriakos Mitsotakis und des polnischen Premierministers Donald Tusk hervor, über das unser Kollegen Jakob Hanke berichtet. Polen und Griechenland fordern darin, den Vorschlag auf die Agenda des nächsten EU-Gipfels Ende Juni zu setzen. 

Wer profitiert? Viele europäische Länder — wie auch Griechenland und Polen – betreiben derzeit amerikanische Patriot-Luftabwehrsysteme. In dem Schreiben wird nicht ausdrücklich gesagt, dass Nicht-EU-Unternehmen von dem Programm ausgeschlossen werden sollten. 

Europe first? Aber ein EU-Luftverteidigungsschild soll helfen, „Anreize für europäische Verteidigungsunternehmen schaffen, um Spitzentechnologien zu entwickeln und in ihren Bereichen weltweit führend zu werden“, heißt es in den Brief. Außerdem soll das Vorhaben die europäische Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie „aufwerten“.

Wie sich der Vorstoß mit anderen europäischen Initiativen verhält, bleibt unklar. Deutschland hatte vor zwei Jahren die European Sky Shield Initiative ins Leben gerufen, der sich im April auch Polen anschloss. Deren Ziel ist die gemeinsame Anschaffung deutscher, amerikanischer und israelischer Luftverteidigungssysteme.

Frankreich und Italien versuchen, Deutschland Konkurrenz zu machen, indem sie die Entwicklung ihres eigenen Luftabwehrsystems der nächsten Generation mit dem Namen SAMP/T vorantreibt. Belgien wollte ursprünglich Patriots kaufen, doch zeigt sich nun an SAMP/T interessiert, da dies früher als geplant fertig sein könnte, berichten unsere Kollegen. 

AUßERDEM ERFAHREN LESERINNEN UND LESER unseres Defense Newsletters, warum das EU-Weltraumgesetz und der endgültige IRIS2-Vertrag auf sich warten lassen. 

WORÜBER BRÜSSEL SONST NOCH SPRICHT

— ORBÁNS OPPOSITION: Ungarn blockiert wieder einmal die EU-Bemühungen, der Ukraine mehr Waffen zu liefern, und eine Einigung der EU-Außenminister über einen neuen Finanztopf bis Montag wird immer unwahrscheinlicher. Budapest unterstützt zwar den neuen Hilfsfonds für die Ukraine in Höhe von fünf Milliarden Euro, der Teil der außerbudgetären Europäischen Friedensfazilität der EU ist, hat aber noch Kritikpunkte an der Verordnung.

— DAS INDUSTRIEPOLITISCHE ZEITALTER: Die EU-Industrieminister werden sich heute auf weitreichende Schlussfolgerungen zur Industriepolitik und zum Binnenmarkt einigen. Der Entwurf basiert auf dem Binnenmarktbericht, den der ehemalige italienische Ministerpräsident Enrico Letta den Staats- und Regierungschefs im April vorgelegt hat. 

NÄCHSTE UMWELTKOMMISSARIN? Die stellvertretende spanische Ministerpräsidentin Teresa Ribera hat eine wichtige parteiübergreifende Unterstützung bei ihrer Bewerbung um das Amt der EU-Umweltministerin erhalten. „Ich würde es sehr, sehr gut finden“, sagte Canfin im POLITICO Interview über Riberas möglichen Posten. Mehr Details gibt es hier

EU BESCHLIEßT LIEFERKETTENGESETZ: Heute Vormittag hat der Rat das Lieferkettengesetz verabschiedet. Große Unternehmen müssen nun Klima-Pläne vorlegen und können zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie von Menschenrechtsverstößen von Zuliefern profitieren.

Das war Brussels Decoded — das Europa Briefing von POLITICO. Vielen Dank, dass Sie uns lesen und abonnieren. Bis zur nächsten Ausgabe!

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